250.000 Jahre lang beherrschten die Neandertaler Europa. Nicht gebückt und mit der Keule in der Hand, wie ihnen häufig nachgesagt wird, sondern mit ausgefeilten Jagdtechniken und sozialer Fürsorge für ihre Angehörigen. Sie passten sich an die rauen Lebensbedingungen der Eiszeit an und sicherten so ihr Überleben. Doch vor gut 30.000 Jahren verliert sich ihre Spur. Dass es sie überhaupt gab, kam erst vor 150 Jahren ans Licht, als bei Mettmann im Neandertal ein Schädel des Urzeitmenschen gefunden wurde. Seitdem rätseln wir: Wer war unser entfernter Verwandter?
Homo neanderthalensis – der Neandertaler
Unter den kritischen Blicken der Wissenschaftler ist der Neandertaler manchmal arm dran. Lange Zeit stritten sich die Forscher darüber, welchen Platz der Homo neanderthalensis im Stammbaum des modernen Menschen einnimmt. Waren die Neandertaler eine regionale Bevölkerungsgruppe des Homo sapiens, also eine Zwischenstufe in der Entwicklung zum modernen Menschen? So sehen es die sogenannten Multiregionalisten. Oder bildeten die Neandertaler eine eigenständige Gruppe, die in einer evolutionären Sackgasse mündete, wie es die Anhänger der “Out-of-Africa”-Theorie vermuten? Mit Gen-Analysen versuchen Forscher dieses Rätsel nun zu lösen.
Lange Zeit galt nur eins als sicher: Neandertaler und moderne Menschen hatten den gleichen Vorfahren, den Homo erectus. Aus ihm entwickelten sich vor etwa 800.000 Jahren zunächst die “Heidelberger Menschen” und vor rund 300.000 Jahren schließlich die ersten Neandertaler. An mehr als 80 Fundorten in vielen europäischen Ländern und im Mittleren Osten konnten Neandertaler-Fossilien ausgegraben werden. Diese Urmenschen lebten in einem Gebiet von Südspanien bis Usbekistan und von Norddeutschland bis Israel.
Neue Erkenntnisse gewann ein Team um den Genetiker Svante Pääbo im Mai 2010. Den Forschern war es nach zehn Jahren Arbeit gelungen, die Erbsubstanz (Genom) des Neandertalers zu entschlüsseln. Und siehe da: Ein bis vier Prozent unserer DNA hat uns der Neandertaler vererbt. Neandertaler und moderner Mensch müssen also Sex gehabt und Nachkommen gezeugt haben, während sie gemeinsam in Europa und im Nahen Osten lebten. Pääbos Erkenntnis: Noch heute tragen wir Europäer ein Stück Neandertaler in uns.

Klimatische Bedingungen und Anatomie
Neandertaler waren ideal an die eiszeitlichen Lebensbedingungen angepasst. Den Begriff “Eiszeit” muss man jedoch differenziert betrachten: In den rund 250.000 Jahren des Neandertalerdaseins war es nicht immer nur klirrend kalt in Europa. Es gab auch Warmzeiten, die so genannten Interglazialen, die 10.000 bis 15.000 Jahre andauerten. Die Neandertaler mussten also mit extremen klimatischen Veränderungen klarkommen. Anatomisch unterscheidet sich der Neandertaler vielleicht auch deshalb stark vom modernen Menschen.
Der moderne Mensch, Homo sapiens, der sich zeitgleich im warmen Klima Afrikas entwickelte, war größer und schlanker als der urzeitliche Europäer. Knochenfunde zeigen, dass der Neandertaler klein und stämmig war, im Schnitt etwa um die 160 Zentimeter groß. Dafür war er mit 60 bis 80 Kilogramm recht gewichtig. Neandertaler waren muskulös und mit einem robusten Knochenbau ausgestattet. Besonders auffallend war ihr Schädel: Er war lang gestreckt und flach. Im Schnitt war das Gehirn des Neandertalers größer als unseres. Das weit ausgezogene Hinterhaupt lässt darauf schließen, dass sein Gehörsinn besser ausgeprägt war und er möglicherweise auch besser sehen konnte, vor allem in der Dämmerung. Darauf weisen auch die großen Augenhöhlen hin. Die flache Stirn mit den mächtigen Überaugenwülsten, der kräftige Kauapparat und das fliehende Kinn sind ebenfalls typisch für den Neandertaler. Außerdem hatte er sehr große Nasennebenhöhlen, die das kalte Klima etwas erträglicher machten. In ihnen wurde die kühle Luft vorgewärmt und befeuchtet, ehe sie bis zu den Lungen vordrang.

Lebensweise der Neandertaler
Was mussten sie sich nicht schon alles bieten lassen: Keulen schwingende Affenmenschen, brutal, stumpfsinnig und primitiv. Dieses Bild ist mittlerweile überholt. Neandertaler waren weitaus kultivierter als bislang angenommen. Sie machten Feuer und waren geschickte Großwildjäger: Wollnashörner, Mammuts und Rentiere gehörten zu ihrer Beute. Keulen brauchten sie dazu gar nicht. Neandertaler waren geschickte Werkzeugmacher, die speziell für die Jagd Speere mit Steinspitzen anfertigten. Einige Steinwerkzeuge hatten Klingen – so scharf wie ein Skalpell.
Ihr Leben war gefährlich. Fast alle Knochenfunde weisen Verletzungen auf. Im Irak fanden Paläontologen die Überreste eines verkrüppelten Neandertalermannes. Er hatte mehrere Knochenbrüche erlitten. Durch eine Schädelverletzung auf der linken Seite muss er auf einem Auge blind gewesen sein, zudem fehlte ihm der rechte Unterarm. Trotzdem wurde er circa 35 bis 40 Jahre alt, was darauf schließen lässt, dass er von seinen Angehörigen gepflegt wurde. Neandertaler waren sozial organisiert. Der Fund eines Zungenbeins in der Kebara-Höhle in Israel ist ein Hinweis darauf, dass sie auch sprechen konnten. Ob sie jedoch wirklich sprachen und wie sich diese Sprache angehört haben könnte, können wir nicht mehr rekonstruieren.
Manche Forscher glauben auch, dass sie einen Sinn für Kunst und Musik hatten. Doch Funde aus der Zeit der letzten Neandertaler wurden bisher immer dem Homo sapiens zugeordnet, der vor rund 35.000 Jahren nach Europa drängte. Ob zu Recht, lässt sich schwer beweisen.
Der Umgang mit den Toten
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Neandertaler lag Studien zufolge bei etwa 30 Jahren. So blieb den fortpflanzungsfähigen Neandertalern nur wenig Zeit, ausreichend viele Nachkommen zu zeugen, um das Überleben ihrer Sippe zu sichern. Vermutlich wurde nur jedes zweite Neandertalerkind älter als fünf Jahre.
Offenbar haben die Neandertaler zum Teil ihre Toten bestattet. Gräber und kleine Friedhöfe finden sich weit gestreut im Lebensraum der Neandertaler zwischen Frankreich und Israel. Die Bestattungen weisen jedoch nicht zwingend auf Jenseitsvorstellungen hin. Grabbeigaben sind kaum gefunden worden. Nur in der Shanidar-Höhle im Irak lassen sich in der unmittelbaren Umgebung der Knochen auffällig viele Blütenpollen nachweisen. Blumen könnten also bei Bestattungen durchaus üblich gewesen sein.
Außerdem war bei den Neandertalern wohl die Sitte verbreitet, das Fleisch vom Körper der Toten abzutrennen und die Knochen aufzubrechen. Menschliche Überreste wurden zum Teil wie Tierknochen aufgebrochen. Was zunächst nach grausamem Kannibalismus klingt, interpretieren viele Wissenschaftler jedoch anders: Sie vermuten eher einen religiösen Ritus hinter dieser Praxis. Insbesondere die Schnittstellen am Schädel sind ein Indiz für diese These. Dass vor allem die Köpfe der Toten bearbeitet wurden, deutet nicht auf Kannibalismus hin, da dort nur wenig Fleisch sitzt. Die Praxis ist daher eher ein Hinweis auf rituelle Mehrfachbestattungen. Dabei werden einzelne Knochen exhumiert, vom Fleisch befreit und gesondert verwahrt.
Jennie Theiss/Andrea Wengel,
Stand vom 07.05.2010
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Quelle:
http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/urzeit/neandertaler/index.jsp